Alt und mittendrin – Wie Oberhausen für seine Senioren sorgt
Von Susanne Schröder
Wie gelingt es, dass alte Menschen nicht nur mit dem Nötigsten wie Pflege und Essen versorgt werden, sondern tatsächlich Teil der Gesellschaft bleiben? Darüber hat eine Gruppe engagierter Bürger in Oberhausen bei Neuburg an der Donau lange nachgedacht. Heute ist die 2700-Einwohner-Kommune im Donaumoos mit ihren »Lebensräumen für Jung und Alt« eine Art bayerisches Musterdorf in Sachen Seniorenpolitik – mit erstaunlichen Auswirkungen nicht nur für die Alten, sondern für die ganze Dorfgemeinschaft.
Die Idee
1991 erkrankte der Vater von Mini Forster-Hüttlinger an Alzheimer. Um ihn zu pflegen, gab die Fotografin ihr Geschäft in Neuburg auf – nur so konnte der alte Mann bis zu seinem Tod elf Jahre später in der vertrauten Umgebung bleiben. Seine kinderlose Tochter aber dachte sich: »Es wäre schön, wenn ich diese Möglichkeit auch hätte – alt werden, wo ich daheim bin.« Das war, wenn man so will, der Beginn der »Lebensräume für Jung und Alt«, des Generationenzentrums in Oberhausen, das nicht nur zwölf Wohnungen bereitstellt, sondern auch einen Veranstaltungssaal für die ganze Gemeinde und ein Seniorenbüro, mit dessen Hilfe sich in den letzten fünf Jahren ein dichtes Netz an bürgerschaftlichem Engagement gesponnen hat.
Denn Mini Forster-Hüttlinger hat sich zur Schwungfeder der »Lebensräume« entwickelt. Seit 18 Jahren ist die energische Frau mit den wachen braunen Augen im Oberhauser Gemeinderat politisch aktiv und hat bei den Überlegungen für ein seniorenpolitisches Gesamtkonzept für ihr Heimatdorf nicht mehr locker gelassen: Selbstständig in den eigenen vier Wänden alt werden, bei Bedarf Unterstützung bekommen, in Kontakt mit jungen und alten Nachbarn bleiben, Teil eines lebendigen Alltags sein – das war das Ziel der Oberhauser Vordenker. Zwischen 2002 und 2005 besichtigte der »Agenda Arbeitskreis« verschiedene generationenübergreifende Wohnanlagen und nahm Kontakt auf mit der Stiftung Liebenau, die ihr Konzept »Lebensräume für Jung und Alt« in Süddeutschland bereits neunmal verwirklicht hat. 2005 kaufte die Gemeinde Oberhausen ein Grundstück in der Dorfmitte und beantragte Fördermittel beim Projekt »Leader +« des Freistaats. Im April 2008 zogen die ersten Mieter in den »Lebensräumen« ein.
Die Lebensräume
Ein paar Details unterscheiden die »Lebensräume« von einem normalen Appartementblock. Gleich nach der Eingangstür geht es links zum Seniorenbüro, in dem die Fäden des ehrenamtlichen Engagements im Dorf zusammenlaufen und wo Bewohner der »Lebensräume« Hilfe bei Alltagsproblemen finden. Direkt gegenüber geht es zum Veranstaltungssaal, der der ganzen Gemeinde zur Verfügung steht. Ob Krabbelgruppe oder »Gymnastik 50 plus«, Demenzgruppe oder Computerkurs, Vortragsreihe oder Kinoabend: Der Saal ist jeden Tag belegt. Das liegt auch daran, dass es in Oberhausen bisher schlicht zu wenig öffentlich nutzbare Räume gab: Die katholische Kirche hat keinen eigenen Saal und die Mehrzweckhalle der Schule ist zu groß für Alltagsveranstaltungen. Der Saal der »Lebensräume« schließt die Lücke – und sorgt so dafür, dass die Bewohner der Anlage kein Inseldasein führen, sondern jeden Tag das halbe Dorf zu Gast haben.
Zum Konzept der »Lebensräume« gehört, dass die Wohnungen zu zwei Dritteln an Senioren aus Oberhausen und Umgebung vermietet werden, ein Drittel an junge Paare, Alleinerziehende oder Familien – die verschiedenen Wohnungsgrößen von 64 bis knapp 100 Quadratmetern machen es möglich. Wer eine Wohnung in den »Lebensräumen« mieten will, muss für das Konzept einer guten Nachbarschaft offen sein: mal eine Glühbirne wechseln, mal jemanden zum Bahnhof mitnehmen, mal was vom Bäcker mitbringen. »Wir nehmen niemanden, der nur Wohnraum sucht und kein Interesse an der Gemeinschaft hat«, sagt Mini Forster-Hüttlinger. Einen Zwang zur Nachbarschaftshilfe gibt es aber auch nicht: Wer Unterstützung braucht, kann auch einfach im Seniorenbüro klingeln.
Die Bewohner
So wie Renate Marzall, die ab und zu vorbeischaut. Die 61-Jährige wohnt seit Juni 2013 in den »Lebensräumen«. Mann und Sohn sind schon verstorben, sie wohnte allein in einem großen Haus mit Grundstück, Hühnern, Enten, Ziegen und einem 90 Meter langen Gehweg, der im Winter vom Schnee befreit werden wollte. »Mir war klar, dass ich das allein auf Dauer nicht schaffe«, sagt sie nüchtern. Aber wohin dann? Nach langer Suche stieß sie auf die »Lebensräume« und bezog eine 2-Zimmer-Wohnung. Sie schätzt das Gefühl, »mittendrin« zu sein. »Die Nachbarn sind angenehm, man grüßt und hilft sich, bei schönem Wetter grillt man zusammen auf der Terrasse, und man kann bei den Veranstaltungen der Oberhauser Bürger mitmachen«, zählt Marzall auf. Annemarie Buos, seit drei Jahren in der Wohnanlage, sieht das genauso. »Das Kaffeekränzchen lass´ ich nicht aus«, lacht sie. Die 84-Jährige mag es, gemeinsam zu singen und zu spielen. Beide Frauen sind sich einig, dass es ohne Eigeninitiative auch im Alter nicht geht. »Man muss unter die Leute gehen und darf sich nicht einsperren«, findet Annemarie Buos. Renate Marzalls Rezept für gesellschaftliche Teilhabe im Alter lautet: »Man muss für die Alten sorgen, aber mit den Jungen was unternehmen.« Ohne gegenseitige Toleranz gehe das nicht. Damit die wachsen kann, sei eine Moderatorin wie Mini Forster-Hüttlinger notwendig. »Ohne sie würden sich in der Gemeinschaft nur die Starken durchsetzen – da braucht es einen Mediator und Puffer«, findet Marzall.
Die Schnittstelle
Damit sind zwei wichtige Funktionen von Mini Forster-Hüttlinger schon benannt. Zusätzlich zur Pflege der Wohngemeinschaft hält sie aber als sogenannte »Gemeinwesenarbeiterin« auch noch das ganze System der »Lebensräume« in Schwung. Dessen Herzstück ist die Helferdatenbank. In ihr sind mittlerweile 80 Namen von Oberhauser Bürgern vermerkt, die bestimmte Dienste anbieten: Gartenarbeit, Fahrdienste, Einkaufshilfe, Behördengänge, Begleitung bei Arztbesuchen, Vorlesen, Spazierengehen oder sogar medizinische Hilfe beim Insulinspritzen – alles ehrenamtlich, versteht sich. »Es gibt viele Leute, die Zeit haben und gerne etwas tun«, ist Forsters Erfahrung. Dennoch dauerte es eine Zeit, bis die Idee ans Laufen kam: »Die Hemmschwelle ist sehr hoch«, sagt sie, »denn wer um Hilfe anfragt, gibt sich eine Blöße.«
Vor Bloßstellung und Vereinnahmung schützt die »Leitstelle für Nachbarschaftshilfe« im Seniorenbüro von Mini Forster-Hüttlinger. Wer bei ihr um Unterstützung bittet, muss keine Ablehnung fürchten und auch nicht, jemandem zur Last zu fallen, denn sie hat Helfer zur Hand, die ihre Dienste freiwillig anbieten. Auf der anderen Seite muss kein Ehrenamtlicher Angst haben, auf ewig als Helfer eingespannt zu werden – dafür sorgen schriftliche Vereinbarungen, die Art und Dauer der Hilfe festlegen. Bürgermeister Fridolin Gößl bringt den Wert des Seniorenbüros auf den Punkt: »Die Stelle ermöglicht Unverbindlichkeit: Sie generiert viel Potenzial und wenig Abhängigkeit.«
Der Bürgermeister
Neben Forster-Hüttlinger ist Fridolin Gößl die zweite Hauptfigur im Oberhauser Seniorenkonzept. Ohne den 45-jährigen Bürgermeister wären die »Lebensräume« wohl nicht zum Leben erwacht und Oberhausen heute nicht Pionierkommune in Sachen »Teilhabe im Alter«. Dabei ist Gößl alles, nur kein Romantiker. »Es ist eine volkswirtschaftliche Tatsache, dass wir nicht alle alten Menschen in Altenheimen betreuen können: Die Kosten sind zu hoch«, sagt der CSU-Politiker mit Trachtenjanker und Vollbart. Es sei deshalb schlicht notwendig, andere Konzepte für das Altwerden zu finden: »Es spart dem Landkreis Sozialhilfekosten, wenn die Menschen in ihren Wohnungen bleiben und die Hilfe bekommen, die sie brauchen.« Doch neben dem kühlen Blick auf die Gemeindefinanzen hat sich der junge Bürgermeister auch die Fähigkeit zum Mitgefühl erhalten. Seine Geburtstagsbesuche führen Gößl oft in große, verwaiste Häuser: »Ich war schockiert, wenn die alten Menschen da allein in dem riesigen Haus am Frühstückstisch saß. Man merkt einfach, wie schnell sie abbauen, wenn die sozialen Kontakte fehlen.« Noch nachhaltiger waren die Erlebnisse in den Pflegeheimen. Einmal habe er eine Jubilarin besucht, die ihn mit den Worten empfing: »Geben’S mir Gift, ich halt das hier nicht mehr aus.« Gößls Stimme klingt belegt, als er von der Begegnung erzählt.
Das Besondere am Oberhauser Bürgermeister ist, dass er seine Betroffenheit nicht einfach abgeschüttelt hat. Stattdessen hat er den 1,8 Millionen Euro teuren Bau der »Lebensräume« forciert. Außerdem finanziert die Gemeinde die Stelle von Mini Forster-Hüttlinger. »Wenn jeder mal profitiert, fragt keiner nach den Kosten «, findet der Bürgermeister. Das Seniorenbüro habe sich zur »Keimzelle« ehrenamtlichen Engagements entwickelt und die Leistungsfähigkeit der Gemeinde gesteigert. »Man muss«, sagt Fridolin Gößl, »dem Bürger ermöglichen, etwas zu tun.«
Die Bürger
Und diese Bürger scheinen in Oberhausen besonders engagiert. An vielen Stellen hat sich das Prinzip »Hilfe« längst verselbstständigt. Neue Treffpunkte und Angebote entstehen, auch ganz ohne das Zutun des Seniorenbüros. »Engagement steckt an«, lacht Mini Forster-Hüttlinger. Zuletzt hat sich das wieder beim Kaffeehaus gezeigt, dem jüngsten Kind der »Lebensräume«. Als ein Geschäft im Dorfzentrum schloss, machten die Gemeindenetzwerkerin und ihre Mitstreiter ein Café daraus und riefen die Bürger zur Mithilfe auf. Ergebnis: Alle Möbel für das Kaffeehaus sind gespendet, ebenso die ausliegende Zeitung, außerdem alle zum Verkauf stehenden Kuchen – und zwar jeden Tag frisch. Muss man noch erwähnen, dass die Kaffeehaus-Mitarbeiter bis auf eine Koordinatorin ehrenamtlich tätig sind? Und wieder profitiert die ganze Gemeinde: die Senioren, denen es vielleicht unangenehm ist, Gäste einzuladen, weil die Wohnung nicht sauber genug ist, und alle anderen, weil es in Oberhausen bislang keine Wirtschaft gab, die tagsüber geöffnet war.
Das Dorf
Warum funktioniert das alles in Oberhausen? Mini Forster-Hüttlinger nennt mehrere Gründe. Zum einen waren die Oberhauser schon früh gezwungen, sich für Neues und Fremdes zu öffnen. 1936 legte die »Wirtschaftliche Forschungsgesellschaft Berlin«, eine Tarnfirma des Reichswirtschaftsministeriums zur Beschaffung kriegswichtiger Rohstoffe, einen Standort in den sandigen Boden des Donaumoos – so entstand in Oberhausen eine Werksiedlung für 800 Menschen. »Das Dorf hatte damals etwa 200 Bewohner, und plötzlich kamen Ingenieure, Chemiker und Arbeiter aus ganz Deutschland hierher«, berichtet Forster, deren Vater ebenfalls zu den Zuzüglern gehörte. Natürlich gab es damals große Spannungen zwischen den Einheimischen und den Fremden. Heute aber profitiert das Dorf von dieser Geschichte: Die Oberhauser, sagt Forster-Hüttlinger, sind offen für Fremde, schotten sich nicht ab und nehmen neu Zugezogene einfach mit – in den Schützenverein oder zum Kinoabend in den »Lebensräumen«. Hilfreich ist auch die Nähe zu Ingolstadt mit dem Automobilkonzern Audi – das zieht viele junge Familien an, denen die Kommune mit Baugrundstücken und neuerdings einem Glasfaserbreitbandnetz den roten Teppich ausrollt.
Das Geheimnis
Was sind also die Zutaten zu einem seniorenpolitischen Konzept wie in Oberhausen? Am Anfang: eine Handvoll dickköpfiger Bürger mit guten Ideen. Dann: Bürgermeister und Gemeinderat, die mutig neue Wege beschreiten. Und auf Dauer: eine Hauptamtliche, die das System in Schwung hält. Dann wird aus der Nachbarschaftshilfe ein, wie Fridolin Gößl es nennt, »Pilzgeflecht«, das sich über den ganzen Ort ausbreitet. Es wächst, weil sich viele Menschen anstecken lassen. Und es kostet fast nichts, weil alle gerne mitmachen.
Quelle:
Evangelische Wochenzeitung für Bayern, Sonntagsblatt Nr. 14, Ausgabe München und Oberbayern vom 06.04.2014, Seite 36-38
Autorin: Susanne Schröder